Ein Jahr danach…

Hellersdorf ist spätestens seit Sommer 2013 wieder in den Fokus der bundesdeutschen Öffentlichkeit geraten. Sogar Europaweit nahmen Menschen Kenntnis von den Geschehnissen am östlichen Berliner Stadtrand.
Was ist passiert? Nachdem bekannt wurde, dass im Bezirk eine Unterkunft für Geflüchtete errichtet werden soll, regte sich rasch Widerstand am vermeintlichen „Ort der Vielfalt“ in Form einer sogenannten „Bürgerinitiative“. Vordergründig in sozialen Netzwerken, aber auch durch Papier-Propaganda verbreiteten vermeintlich „besorgte Bürger“ ihre kruden Thesen über Asylsuchende und die verantwortlichen Politiker*innen.
Im altbekannten und zum Teil mit vorherigen Kampagnen der NPD völlig identischem Sprech riefen die Aktivist*innen dieser Gruppierung zur Teilnahme an einer vom Bezirk ausgerichteten Bürger*innenversammlung auf, um dort lautstark gegen die Einrichtung der Unterkunft zu demonstrieren. Schon zu diesem Zeitpunkt ließ sich eine eindeutige Verbindung zur NPD erkennen, war doch die sich für die im Kiez kursierenden Flugblätter verantwortlich zeichnende Person ein früherer Wahlkreiskandidat der Partei.
Am 9.Juli 2013 folgten neben hunderten Anwohner*innen auch die Crème de la Crème der Berliner Neonazi-Szene dem Aufruf zur Teilnahme an der Bürger*innenversammlung – sogar Sebastian Schmidtke und Maria Fank konnten kurzzeitig das Mikrophon ergattern. Diesen gelang es von Anfang an die Stimmung anzuheizen und die Deutungshoheit zu erlangen. Die Vertreter*innen des Bezirkes, der Polizei und des Senates erschienen völlig überfordert mit der Situation und konnten dem braunen Treiben nichts adäquates entgegensetzen. Im Gegenteil: Rassistische Redebeiträge von Anwohner*innen und stadtbekannten Neonazis wurden zumeist unkommentiert zugelassen. Wem noch nicht klar war, dass die „Bürgerinitiative“ von Neonazis durchsetzt ist, musste jetzt einsehen, dass hier nicht nur „besorge Bürger“ ihren Unmut äußerten, sondern eine gezielte Kampagne breiter Neonazi-Kreise von NPD bis Freien Kräften im Gange war.
Dem „braunen Dienstag“ folgten 8 NPD-Kundgebungen und 2 Demonstrationen im Zeitraum von Juli bis November 2013 durch Hellersdorf, welche auch von NPD-Kader*innen und „Freien Kräften“ angeführt wurden. Der zu diesem Zeitpunkt laufende Bundestagswahlkampf wurde offenbar gezielt durch die rassistische Mobilisierung nunmehr berlinweit entstehender Initiativen gegen Asylunterkünfte im Sinne der NPD flankiert.

November 2013 bis heute.
Nachdem die Nazis im November einen sogenannten „Tag der Meinungsfreiheit“, eine Demonstration durch den Kiez der Unterkunft, durchführen wollten und dabei durch Blockaden massiv gestört und zur Umkehr gezwungen wurden, schien es nun langsam etwas ruhiger um die Carola-Neher-Straße und Umgebung zu werden. Aber es war eine trügerische Ruhe.
So jagten in den darauf folgenden Wochen 10-15 Rassist*innen zwei Bewohner der Unterkunft durch den Kiez, die sich in die selbige retten konnten. Zum Jahreswechsel wurden an der Unterkunft und am alternativen Jugendzentrum „La Casa“ an den Eingangsbereichen mehrere Feuerwerkskörper montiert und gezündet, wodurch es zum Teil zu erheblichem Glasbruch kam.
Anfang des Jahres 2014 bedrohten zwei Leute, die sich seit Längerem zur inzwischen umbenannten „BürgerBewegung Hellersdorf“ zählen, eine Person mit einem Messer. Das Opfer wurde durch die Täter*innen zum Unterstützer*innenkreis der Refugees gezählt und geriet dadurch ins Visier der extrem rechten Szene.
Die Aktivität der sogenannten „Bürgerbewegung“ schwankte zunehmend zwischen vermeintlich ziellosem Aktionismus und zeitweiliger Inaktivität.
Die NPD nutze den seit Anfang 2014 laufenden Europawahlkampf kaum. Die zuvor eingesetzten Kräften schienen verschlissen. Die „Bürgerbewegung“ versuchte Online vergeblich „die Massen“ bei Laune zu halten. Eine daraus entstehende Kampagne mit schwarzen Holzkreuzen zur Darstellung vermeintlicher „deutscher Opfer“ und „Deutsches Kinderlachen gegen Überfremdung“ blieben relativ Ergebnislos.
In der zweiten Jahreshälfte versuchte der harte Kern wieder für handfeste Aufmerksamkeit zu sorgen. Das geschah Anfang Oktober. Fünfzehn, zum großen Teil bekannter Nazis, wollten sich stellenweise gewalttätig Zutritt zum „LaLoKa“, einem durch Unterstützer*innen von Geflüchteten Ladenlokal in der nähe der Hellersdorfer Unterkunft, verschaffen. Ziel sei es angeblich gewesen „Meinungen beim offenen Treffen zur Asyldebatte auszutauschen“. Die unmittelbar herbeigerufene Polizei stellte die Personalien der Angreifer*innen fest und erteilte umgehend Platzverweise.

Fazit
Die Einrichtung der Unterkunft hat in Marzahn-Hellersdorf deutlich den Rassismus in weiten Teilen der Gesellschaft offengelegt. Unabhängig des sozialen Status wurden tiefe Ressentiments deutlich. Neonazis und extrem rechte Parteien konnten die Aufgeheizte Stimmung gezielt für ihre Zwecke nutzen, was zum einen im Wahlergebnis der Bundestagswahlen 2013 zu sehen war, zum anderen daran, dass von einer neuen extrem rechte Gruppe im Bezirk gesprochen werden muss. Hinzu kommt ein offenbar reaktivierter Kreisverband der NPD, der nunmehr selbstbewusst im Bezirk agiert. Ob dies eine dauerhafte Neuorganisation des Partei im Bezirk darstellt, bleibt abzuwarten.
Das Prinzip der „Bürgerinitiativen“ hat gefruchtet. Hinter der Fassade „besorgter“ Anwohner*innen konnten sich Neonazis verstecken. Ein Prinzip, das als „Hellersdorfer-Modell“ weite Kreise zog. Dem entgegen stand jedoch eine relativ zeitige Entlarvung der handelnden Personen durch antifaschistische Intervention, welche zumindest Presseöffentlichkeit und Politik für den neonazistischen Charakter der vermeintlichen „Bürgerinitiative“, später „Bürgerbewegung“, sensibilisierte. Eine weitere personelle und medienöffentliche Stärkung der genutzten Fassade konnte so zumindest eingedämmt werden.

Also alles scheiße ein Jahr danach?
Ja, aber nicht nur!
Es hat sich auch viel auf der Support-Seite getan. Gruppen und Hilfs-Initiativen haben sich gegründet, teilweise von Menschen die nie zuvor Politik gemacht haben.
Darunter „Grenzen_Weg“, eine studentische Initiative der Hellersdorfer Alice-Salomon-Hochschule, die sich mit den Bewohner*innen der Unterkunft beschäftigen. Hilfe bei Anträgen oder Fussball spielen mit den Kindern gehören ebenso zu deren Aktivitäten, wie eine klare Positionierung für die Rechte von Geflüchteten.
„Hellersdorf-Hilft“, die zusammen mit anderen Menschen vor Kurzem das „LaLoKa“ eröffnet haben, ist ebenfalls eine im Sommer 2013 entstandene Initiative, die sich fest als Gegenpol zum rechten mainstream im Bezirk etabliert hat. Mit einer Begegnungsstätte unweit der Unterkunft, wo den Bewohner*innen Internetzugang geboten wird und auch Austausch mit Anwohner*innen statt findet, konnte ein Gemeinschaftsprojekt verschiedener Gruppen geschaffen werden.

Antifa noch aktuell?
Der „Braune Dienstag“ und der sich anschließende Sommer haben das viel beschworene Bild des idyllisch grünen Stadtrandbezirkes zerstört und jeder Verantwortungsträgerin klar gemacht, dass sich hinter bunt angestrichenen Fassaden, der rassistische, antisemitische und deutschtümelnde Keim der 90er Jahre gehalten hat und sich jederzeit in Ereignisse, wie der sog. „Bürgerversammlung“ am 9.7.2013 entladen kann. Antifaschist*innen haben sich im Zuge der rassistischen Mobilisierung des Jahres 2013 im Bezirk enger vernetzt. Dies ist auch dringend nötig, werden die neu geschöpften Kräften auf Seiten der Neonazis doch auch weiterhin aktiv bleiben.
Antifaschist*innen in Marzahn-Hellersdorf wissen, dass staatliche Einschätzungen über neo-nazistische Strukturen kein Indiz für die Realität des durch Imagekampagnen erwünschten Bildes des Bezirkes darstellt. Antifaschistische Intervention muss viel breiter Aufstellen, als nur die „Köpfe“ rechter Gruppen zu kennen. Vielmehr muss durch kontinuierliche Aufklärungs- und auch Kulturarbeit eine Gegenkultur zum rechten mainstream gestärkt und offensiv in die Kieze getragen werden. Demos und Kundgebungen, Open-Air-Konzerte, Plakate, Flyer und Aufkleber gehören in jeden Kiez, jeden Stromkasten und jeden Bahnhof und dürfen nicht nur im kleinen Binnenraum antifaschistischer Projekte schmoren. Manchmal muss es die Bewohner*innen des Bezirkes eben auch kräftig nerven, wenn schon wieder eine Demo durch ihren Kiez zieht, damit klar ist, dass kein Raum sich antifaschistischer Deutungshoheit entziehen kann.